75 Jahre Jubiläumsfeier der Niederrheinischen Gesellschaft

Festansprache 75 Jahre Jubiläumsfeier...

Festansprache zur Feier des 75-Jährigen Bestehens der Niederrheinischen Gesellschaft für Vor- und Frühgeschichtsforschung am 16. November 1996 in Duisburg

Liebhaber, Laien, Archäologie und tiefere Bedeutung

von Joachim Reichstein, Schleswig

Würdige Jubilarin, würdige Niederrheinische Gesellschaft für Vor- und Frühgeschichtsforschung!
Herr Vorsitzender, lieber Herr Dr. Krause!
Offizielle Respektspersonen!
Verehrte Festgäste!

Festansprachen, meine Damen und Herren, Festansprachen sollten apothekenpflichtig sein. Sie sind bekannterweise starke Schlafmittel. Selbst chronische Schlaflosigkeit ist mit einer zünftigen Festansprache heilbar. Entspannte Ruhetage finden Sie auf den bequemen Sitzmöbeln der Schifferbörse. Um Ihnen Tiefschlaf zu garantieren, meine Damen und Herren, wurde die Festansprache darüber hinaus so terminiert, dass sie zu Ihrer mit dem Tag-Nacht-Wechsel synchronisierten, Schlaf bestimmenden inneren Periodik gut passt.

Wenn ich, verehrte Festgäste, Ihre Reihen mustere, so bin ich einer der wenigen professionellen Archäologen unter einer Oberzahl von Liebhabern der Archäologie und archäologischen Laien im Saal. So gesehen ergreife ich als Externer das Wort. Das ist gruppendynamisch durchaus weise: es schont innere Rivalitäten unter im Saal versammelten Spezialisten und Honoratioren: Alle müssen sich notwendigerweise einig sein, dass jeder von Ihnen die Festansprache kundiger hätte halten können als der arme, weithin unbeliebte Archäologe aus Schleswig. Ich habe hier offenbar das Wort, weil ich es anderswo schon einmal hatte, weil ich es nie unterlassen konnte, meine Meinung zu sagen und weil ich eigensinnig darauf bestanden hatte, mich hörbar zu machen. Man darf nur reden, wenn man geredet hat – in den Parteien ist es so, in den Selbstverwaltungsgremien der Stadt, im Land- und Bundestag, in der Wissenschaft, und warum sollte es zur Feier des 75-jährigen Bestehens der Niederrheinischen Gesellschaft für Vor- und Frühgeschichtsforschung anders sein? Es soll Wissenschaftler geben, die nicht reden dürfen. Grundrechtswidrige Maulkörbe beschweren allerdings zuerst die, die sie verhängen.

1822 schrieb Christian Dietrich Grabbe sein Spiel „Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung“. Der unglückliche und geniale Detmolder Sonderling gab eine quälende, höhnische und irritierende Einsicht in die Sinnlosigkeit von Welt und Leben. Er gilt als Repräsentant der Disharmonie – genau das Richtige, dachte ich mir, um mit einer Parodie auf „Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung“ zum Verhältnis zwischen Dilettanten und Wissenschaft Stellung zu nehmen – auf den ersten Blick ein brisantes, konfliktträchtiges Unterfangen – aber eine Chance, als Repräsentant der Harmonie – wenigstens was das Verhältnis von Profis zu Laien angeht – den Saal zu verlassen.

Grabbes Spiel hat drei Aufzüge. Meine Ansprache hat drei Abschnitte. Ich versuche erstens die leider heute üblichen Konfliktlinien zwischen Dilettanten und Wissenschaft zu skizzieren. Zweitens werde ich feststellen, dass es diese nicht immer gab, um drittens vor dem Hintergrund des Ethos moderner Wissenschaft im Allgemeinen und moderner Archäologie im besonderen die Leistung und den Auftrag der Jubilarin in Erinnerung zu bringen.
Damit wissen Sie von vornherein, meine Damen und Herren, wann Sie in den nächste zwanzig Minuten aufpassen müssen, falls Sie das überhaupt vorhaben und nicht lieber ein Nickerchen machen wollen.

Ich beginne, den Üblichkeiten entsprechend, mit Abschnitt

I.
Ich hatte schon festgestellt, dass im Saal mehrheitlich Liebhaber und Laien der archäologischen Wissenschaft sitzen. Warum das so ist, hat Herr Dr. Krause berichtet.

Indes, meine Damen und Herren: Die Zeiten, als Sie als Laien unbefangen Ihre Meinung zu einem wissenschaftlichen Problem äußern konnten – in der sicheren Erwartung, ernst genommen zu werden – sind vorbei. Die institutionalisierte Wissenschaft reagiert zunehmend empfindlich und ablehnend auf Vorschläge und Kritik, die nicht aus den eigenen Reihen kommen. Wer keiner (oder nicht der richtigen) Institution angehört, gilt als Außenseiter, wird als Amateur oder Dilettant stigmatisiert und – totgeschwiegen. Der institutionalisierte Wissenschaftler sieht sich als Experte. Liebhaber und Laien dienen als Kontrastfolie. Vielleicht habe ich etwas mit Christian Dietrich Grabbe gemein, weil ich mich selbst nicht ganz ins Schema eines institutionalisierten Wissenschaftlers einzufügen vermag, – obwohl äußerlich alle Voraussetzungen gegeben sind. Das schützt wenigstens vor Betriebsblindheit und lässt die üblichen Konfliktlinien zwischen Dilettanten und Wissenschaftlern erkennen.

Es handelt sich um

  • Machtansprüche des Professionalismus
  • Kompetenzansprüche des Expertentums
  • Wissensansprüche des Spezialistentums

Machtansprüche des Professionellen, der die Interessen der institutionalisierten Wissenschaft formuliert und durchsetzt (egal, ob er z. B. in Düsseldorf, Bonn oder hier in Duisburg sitzt), Machtansprüche manifestieren sich in Restriktion wissenschaftlicher Arbeitsbedingungen, Zugangs- und Entfaltungsmöglichkeiten. Professionelle Machtansprüche sind sogar Vehikel zur politischen Durchsetzung von Eigeninteressen. Sie wissen, wovon ich rede oder nicht rede.

Kompetenzansprüche des Experten treten nach zwei Seiten in Konflikt: mit dem Laien einerseits und mit dem Politiker als Entscheidungs- und Verantwortungsträger andererseits. Der Laie kann eine eigene Kompetenz als Experte geltend machen -. er kann sich auf seine alltagspraktischen Erfahrungen berufen, die der vermeintliche Experte ausgeklammert hat. Der Politiker als wissenschaftlicher Laie rekurriert auf das Spezialwissen des Experten. Aber wie geht er damit um? Mit dem Kompetenzanspruch des Politikers für politische Entscheidungen und Verantwortung wird der Kompetenzanspruch des Experten für wissenschaftliche Verantwortung rundheraus in Frage gestellt. Beispiele aus Kommunal-, Landes- und Bundespolitik gibt es genug.

Aus den Wissensansprüchen des Spezialisten endlich ergeben sich Konflikte mit Laien und mit Generalisten. Spezialisten beherrschen einen Wissensausschnitt aus einem Wissenssystem. Sie haben Kenntnisse, die kein Laie haben kann. Laien werden vom Spezialisten für dumm erklärt und stigmatisiert. Aber welche Veränderung erfährt das Spezialgebiet, wenn es von einem Generalisten referiert wird?

Die von Professionalismus, Experten- und Spezialistentum gestellten Macht-, Kompetenz und Wissensansprüche führen erkennbar zu Konflikten mit Dilettanten, aber darüberhinaus auch zu Konflikten mit Entscheidungs- und Verantwortungsträgern und sogar zu Konflikte innerhalb der Wissenschaft. Wer im Saal Phantasie hat, wird ohne Schwierigkeiten meiner abstrakten Darstellung Inhalte, Fleisch und Namen geben und die tiefere Bedeutung ausloten…

II.
Es war jedoch nicht immer so, dass die Wissenschaft empfindlich und ablehnend auf Dilettanten reagierte.

In Westeuropa, meine Damen und Herren, entstanden in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts allmählich neue Einstellungen gegenüber dem Unsichtbaren, vor allem gegenüber der Vergangenheit, den unbekannten Teilen der Erde und der Natur. Es waren Liebhaber, Laien, Amateure, die das traditionelle Bild der Vergangenheit in Frage stellten, die nach Manuskripten der Werke der Antike suchten und Altertümer sammelten; es waren Päpste, Kardinäle, Priester und Mönche, Kaiser, Könige und Fürsten, Juristen, Ärzte und Dichter, Offiziere und Künstler – aber keine Profis. Die fehlten auch, seit sich vom 15. Jahrhundert an die Reisen zu unbekannten Teilen der Erde sprunghaft vermehrten und Universalisten sich mit der unbelebten und belebten Natur beschäftigten.

Heute ist die disziplinäre, durch Profis bestimmte Struktur ein signifikantes Merkmal der Wissenschaft, Spezialisierung ein fortschrittbedingtes Phänomen. Der Universalist mutierte zum Fachidioten.

Die Wissenschaft scheint die positive Rolle der Dilettanten bei der Herausbildung der wissenschaftlichen Disziplinen nicht wahrhaben zu wollen. Es gäbe einen Weg, die finanziellen Probleme unserer Universitäten zu lösen: man müsste die Selbstgefälligkeit von Professoren steuerpflichtig machen. Dabei ist es rasch erkannt und Ihnen, meine Damen und Herren, spontan bewusst, wieviel die neuzeitliche Erfahrungswissenschaft den Liebhabern verdankt. Das 17. und 18. Jahrhundert ist voll von Männern, die sich mit Ernst und Hingabe an der Naturforschung delektierten (lat: delectare ‚(sich) ergötzen, erfreuen‘ wird zu ital. dilettare, Subst. dilettante). Rösei von Rosenhofs herrliche „lnsektenbelustigungen“ oder Ledermüllers „Mikroskopische Gemüts- und Augenergötzungen“ sind nur zwei Beispiele.

Lassen Sie mich an die Virtuosi erinnern, wissenschaftlich interessierte Laien, die sich finanziell unabhängig ganz dem Gegenstand ihrer Forschung widmeten. Die Virtuoso-Bewegung entwickelte sich im 16./17. Jahrhundert aus einer Art Kreuzung von Höfling und Gelehrtem. Ihre fachlichen Erfolge brachten der neuen Wissenschaft wachsendes Ansehen in der Öffentlichkeit. Damals galten wissenschaftliche Erfolge noch etwas. Heute sorgen Politiker für den Misserfolg des erfolgreichen Wissenschaftlers. Sie spüren offenbar nicht einmal, dass sie damit ihren eigenen Misserfolg etablieren. – Lassen wir das.

Die Wegbereiter der modernen Chemie im 17. Jahrhundert waren Metallurgen, Ärzte, Apotheker und andere, die man im historischen Vergleich zu den an Universitäten etablierten Gelehrten als wissenschaftliche Laien ansehen muss. Mediziner oder Apotheker wie Nicolas Lemery (1645-1715), Wilhelm Homberg (1652-1715) und Etienne Frangois Geoffroy (1672-1731), sämtlich Begründer der modernen Chemie, unterscheiden sich von dem von vornherein etablierten Universitätsgelehrten vor allem dadurch, dass sie vorwiegend praxisorientierte gewerbliche Interessen verfolgten und nicht primär Erkenntnisinteressen.

Erinnern wir uns an den Beitrag der Geistlichkeit zu Anatomie, Physiologie und Reproduktionsbiologie; denken wir an Bischof Stensen, an Pfarrer Hales, an Abt Spallanzani und an den Mönch Mendel. Die großen Autodidakten in Mikroskopie, Astronomie, Chemie und Physik, Leeuwenhoek, Herschel, Dalton und Faraday verdienten sich ihr Brot als Tuchhändler, Musiker, Lehrer und Kammerdiener. Goethes, Büchners, Chamissos` und Stifters Rang als Naturforscher wird von ihrem Rang als Dichter nur überstrahlt.

Wer als Liebhaber, Laie, Amateur in der Wissenschaft zu gelten hat, ist nur historisch zu beantworten. Aber eines ist sicher: Dilettanten haben außerhalb institutionalisierter und etablierter Wissenschaft viele und bedeutende wissenschaftliche Leistungen vollbracht, die in die etablierte Wissenschaft eingegangen sind. Auch erfolgreiche Dilettanten sind meist außerhalb der wissenschaftlichen Profession geblieben. Gelegentlich sind sie wegen ihre Leistungen in den Wissenschaftsbetrieb aufgenommen worden. Dilettanten sind sogar Begründer wissenschaftlicher Disziplinen geworden. Amateurismus ist für jede Wissenschaft konstitutiv. Wir sind aber weit davon entfernt, Aspekte der individuellen Disposition von Amateuren, also suchen und sammeln, entdecken und erfinden, grübeln und denken, Aspekte der sozialen Disposition, also Stand, Beruf, Bildung und Geschlecht, oder Aspekte der prädisponierten Wissenschaftlichkeit bei Laien, also inhaltliche oder methodische Neuerungen, Attraktivität und Professionalisierungsgrad als für den Amateurismus bestimmend analysieren und wissenschaftsgeschichtlich bewerten zu können.

„Amateurismus“ ist ein schreckliches Wort, aber er hat wirklich tiefere Bedeutung für die Wissenschaft. Welches Wissenschaftsverständnis hat das 17. bis 19. Jahrhundert ausgezeichnet, als ein ungehinderter Gedankentransfer zwischen Laien und Profis noch möglich war! Aber ist wirklich nur der Marktwert des Dilettanten gesunken? Beim Fernsehen ist der Professor wesentlich billiger als der Clown.

Der Begriff „Amateurismus“ passt schon für die Naturwissenschaften nicht, erst recht ist er falsch bei den Kulturwissenschaften. Denn er erinnert zu sehr an pure Liebhaberei und an Eigennutz. Hier verdeckt er die faszinierenden Privatinitiativen, die die einzelnen entfalten, gegen alle möglichen Widerstände und zur Sicherung des Kulturguts.

Bei der Vorbereitung meines Redetextes habe ich versucht, mir Klarheit über die Bedeutung der privaten Initiative für unsere Gesellschaft ganz allgemein zu verschaffen: mit ziemlich enttäuschendem Ergebnis. Über das Verhältnis von Gruppen, Parteien und Verbänden zum Staat gibt es ganze Bibliotheken voller Abhandlungen. Die Soziologen diskutieren, ob Bürgerinitiativen Partikular- oder lnklusivinteressen vertreten. Aber dass einzelne, unabhängige Bürger seit langem und immer wieder mit unterschiedlichen Mitteln, durch Arbeitsleistung, durch besondere Kontakte zu Behörden, Institutionen, Gruppen und Privatleuten bestimmte öffentliche Interessen wie z. B. die archäologische Arbeit initiativ, uneigennützig und konsequent vertreten und für die Sache hervorragende Ergebnisse erzielen, scheint ihnen entgangen zu sein. Manchmal kommt es mir so vor, als ob es die Gesellschaft, von der die Soziologie mehrheitlich handelt, überhaupt nicht gäbe. Doch nichts gegen die Soziologen. Ich lasse mich auch gern eines Besseren belehren. Mir ist freilich sonnenklar: Ohne private Initiative wäre die archäologische Arbeit und wäre wohl auch unser Staat sehr arm dran. Es gab und gibt hocheffiziente private Initiative, und wenn man genau hinguckt, ist sie gar nicht so selten. Aber sie ist niemals selbstverständlich.

III.
So kommen wir zur Niederrheinischen Gesellschaft für Vor- und Frühgeschichtsforschung. Ich mache dahin einen Umweg. Auch das Leben besteht hauptsächlich aus Umwegen – Sie kennen das.

Der Umweg, zu dem ich aufbreche, geht noch einmal zurück ins 16. Jahrhundert, in die Zeit der Renaissance, des Humanismus, dessen geistige Wellen auch an die Gestade Schleswig-Holsteins geschlagen haben. So alt ist historische Besinnung dort, wo ich herkomme, so alt ist die Beschäftigung mit den Denkmälern der Vorzeit. Es waren selbstverständlich Nichtfachleute, die Forschungsgeschichte machten. Ich erinnere an Heinrich Rantzau, den Staatsmann (1526-1598) und an Paulus Cypraeus, den gottorpischen Rat (gest. 1609). Aus Dithmarschen stammt, datiert ins Jahr 1594, etwas, das man wohl die erste archäologische Fundmeidung des Landes nennen kann. Beim Bau seines Hauses fand der Büsumer Diakon Johann Adolph Köster ein Beil. Er nannte sich gelehrt Neocorus1. Nach seinem Vorbild müsste ich mich Plusiopetros oder Lithoptusios nennen, wenn Sie Wert darauf legen sollten. In seiner „Dithmerschen historischen Geschichte“ finden Sie Einzelheiten zur stratigrafischen Lage und zum Erhaltungszustand seines Fundstückes. Er bildet „dat Biel“ sogar ab und zieht aus, dem Fund Schlüsse für die Geschichte Büsums. Beste archäologische Methode, meine Damen und Herren, und das vor 1600!

Seit damals ist Wissenschaft in Schleswig-Holstein immer auf dem letzten Stand des Irrtums. Das gilt auch für Johann Daniel Major, der in Padua Medizin studiert hatte und bei der Gründung der Kieler Universität als einer der ersten Professoren als Anatom und Botaniker an die Förde berufen wurde. 1692 erschien aus seiner Feder eine Urgeschichte Jütlands und Schleswig-Holsteins; er nannte sie „Bevölkertes Cimbrien“. Darin ging es vorwiegend um die Kimbern. Auf sie bezog Major die ihm bekannten Monumente, die damals noch zahlreichen Großsteingräber und Grabhügel, auch die Funde daraus. Die Kimbern waren für Major zugewandert. Die Antwort auf die Frage nach den Ureinwohnern, auf die die Einwanderer getroffen sein mussten, bot keine Schwierigkeiten, „denn“ – so Major – „das Riesen in der Welt vor unsern Zeiten gewesen, bedarf, weil die Sache notorisch, keiner ferneren Untersuchung“. Und für den Bau der Großsteingräber waren diese Riesen ausgesprochen hilfreich: Die alten Kimbrer hätten „dieser Art Begräbnisse im Nordlicheren Europa erlernet“ und „die greulichen grossen Steine darzu … von Gottland und Norwegen, über die damals schmälere Meer Engen als sie itzo sind, auf grob zusammen gekoppelten Holtz Flössen … mit grosser Riesen und Ross Arbeit herüber geschleppt“. So sah dies ein Kieler Professor damals, meine Damen und Herren – und das fünf Jahre nach Newtons „Mathematischen Grundlagen der Naturphilosophie“, dem Beginn der theoretischen Physik! Dennoch wurde Major, dieser weitbekannte Mediziner, zum verdienstvollen Vorläufer und Anreger archäologischer Studien und der Museumskunde.

Als 1834 in Kiel die „Schleswig-Holstein-Lauenburgische Gesellschaft für die Sammlung und Erhaltung vaterländischer Alterthümer“ gegründet wurde, hatten die Riesen längst ausgedient, die Aufklärung hatte ihnen endgültig den Garaus gemacht. Seither haben sie in gebleichter Form nur noch für die Waschküche Bedeutung.

Von Anbeginn gehörten Persönlichkeiten aus dem ganzen Lande zu den Mitgliedern der Gesellschaft. Alle Berufsgruppen waren vertreten. Man sammelte – wie es so schön heißt „bewegliche Alterthums-Gegenstände“. Die Gesellschaft zählte von vornherein Denkmälerinventarisation, -dokumentation, Schutz und Erforschung der Denkmäler – also ein durchaus modernes denkmalpflegerisches Programm – zu ihren Aufgaben. Denn es konnte gar nicht ausbleiben, dass das neu erwachte historische Bewusstsein mit dem Denkmälerschwund konfrontiert wurde, der um 1800 ganz zwangsläufig mit der Bereinigung der Flurformen (also mit der sogenannten Verkoppelung) und mit intensiverer Nutzung der Felder verbunden war. Lassen Sie mich einen Vorkämpfer für das zitieren, was wir heute archäologischen Denkmalschutz nennen, den seeländischen Bischof Friederich Christian Karl Heinrich Münter – schon der Name ist ein Programm! Münter klagte 1803 in der Einleitung seiner Abhandlung über das Kivik-Monument in Schonen: „Aber Jahr für Jahr nehmen die Schäden zu: Was ich in meiner Jugend noch gesehen habe, ist seit mehreren Jahren zerstört. Und selbst jene uralten ehrwürdigen Denkmäler in Lejre, selbst die Königsgräber, blieben nicht verschont“.

Wir waren bei den Aktivitäten der Schleswig-Holstein-Lauenburgischen Gesellschaft: Seit 1836 erschienen jährliche Berichte. Ich habe die nachgelesen, und es wird ganz deutlich: Die Mitglieder verstanden, ihre Aufgaben anzufassen. Sie stammten keinesfalls aus dem Panoptikum der Sonderlinge und waren mit großem Engagement bei der Sache. Ich bin unsicher, wie ich sie bezeichnen sollte: Amateure – Liebhaber, Laien, Dilettanten, Autodidakten, Privatgelehrte. Alles passt, und passt auch nicht. Alle hatten sie zum Teil ausgezeichnete Kenntnisse. Sie hatten das Fach nicht eigentlich studiert, aber es ist ganz egal, woher sie die Kenntnisse hatten, sie hatten welche! Ist das nicht ein Spiegel für die Niederrheinische Gesellschaft? Ich meine schon!

Die Geschichte war im 19. Jahrhundert noch nicht getrennt von Vergangenheit und Zukunft. Die Mitglieder der Gesellschaft begegneten ihr eingebunden in praktisches, gemeinnütziges, besserndes Bestreben, man hatte, mit Justus Möser zu sprechen, „patriotische Phantasie“.

Worauf es mir ankommt – und das natürlich mit Blick auf unsere Jubilarin: Es gibt in Deutschland eine lange und gute Tradition, dass Heimatfreunde mit patriotischer Phantasie sich in Vereinen zusammentun und ein eigenes Verhältnis zur Geschichte ihrer Heimat finden. Es gehört zu den Treppenwitzen, dass die zu Beginn des 20. Jahrhunderts erhobene Forderung nach förmlichen Denkmalschutzgesetzen und deren Realisierung die dilettantisch tätigen, aber doch sehr wohl tätigen und aus heutiger Sicht von Kiel bis München, von Bonn bis Leipzig in ganz Deutschland durchaus erfolgreich tätigen Vereine lahmlegte. Protest am Niederrhein kam von Laien und führte 1921 zur Gründung der Gesellschaft für Niederrheinische Vorgeschichtsforschung. Herr Dr. Krause hat die Details geschildert. Heute liest man in der Denkschrift der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Forschungsfreiheit, dass sich „gebietsweise die sehr restriktive Handhabung“ der Denkmalschutzgesetze für die archäologische Forschung „als großes Forschungshindernis erwiesen“ habe. Der noch größere Treppenwitz! Wo aber bleibt der Protest der Betroffenen, sämtlich Profis? Kuschen die? Manchen Landesarchäologen muss man wohl fragen, ob er das Wort „Wissenschaft“ noch buchstabieren kann.

Die Niederrheinische Gesellschaft jedenfalls hat nicht gekuscht. Ich hoffe, sie wird das auch nie tun. Durch ihr Handeln entstand das größte archäologische Museum am unteren Niederrhein, aber davon ist heute kaum etwas zu sehen. Darf man „Scheisse!“ rufen, wenn es stinkt? Die Gesellschaft hat ihre Aufgaben erfolgreich angefasst. Herr Dr. Krause hat den Einsatz der Mitglieder der Gesellschaft zutreffend gewürdigt. Die Gesellschaft hat archäologische Forschung möglich gemacht und geleistet.

In der Stadtarchäologie Deutschlands gibt es drei Highlights: Lübeck, Schleswig und Duisburg, – und dann kommt lange Zeit gar nichts. Ohne den Einsatz der Mitglieder der Niederrheinischen Gesellschaft wären die Grabungen in Duisburg kaum möglich gewesen, und wir wüssten von Duisburg im Mittelalter nicht das, was wir wissen. Wo man etwas tut, da tut sich was, und ich unterstreiche noch einmal den nationalen und internationalen Rang der Duisburger Forschungserträge. Als Außenstehender muss ich meine Zweifel haben, dass der Rang der Forschungsarbeit in der Duisburger Altstadt den Repräsentanten der Stadt selbst gehörig bewusst ist, und ich bin skeptisch, dass man den einmal erreichten Standard erhalten wissen möchte. Wo sonst wären die Voraussetzungen für eigenständige intensive archäologisch-historische Forschung besser gegeben als in Duisburg? Wo anders als hier müsste eine Stadt aus Gründen der Selbsterkenntnis und der historischen Selbstachtung mehr Interesse an diesem Ertrag haben?

Meine Damen und Herren, verehrte Mitglieder der Niederrheinischen Gesellschaft! 1942 hat Robert K. Merton der Wissenschaft vier lmperative ins Stammbuch geschrieben:

  • Universalismus
  • Kommunismus
  • Uneigennützigkeit
  • organisierten Skeptizismus

Diese lmperative sind zum Ethos moderner Wissenschaft geworden, Wissenschaft im Sinne von Erweiterung abgesicherten Wissens.

Der Imperativ des Universalismus geht von dem Grundsatz aus, „dass Wahrheitsansprüche, gleich welcher Herkunft, vorab aufgestellten, unpersönlichen Kriterien unterworfen werden müssen: sie müssen mit der Beobachtung und dem bisher bestätigten Wissen übereinstimmen“. – Merke auf, würdige Jubilarin, wenn in archäologischen Dingen Wahrheitsansprüche von der Landesregierung, vom Landschaftsverband oder von der Stadt kommen! Wer besser als eine renommierte unabhängige, gemeinnützige Gesellschaft kann sich zu Wort melden, wenn politische Kompromisse, aber keine wissenschaftlich vertretbaren Lösungen gesucht werden? Wissenschaftliche Arbeit folgt 1921 und 1996 unpersönlichen Kriterien. Wenn diese verraten werden, liegt meist ein Rechtsbruch vor. Gesellschaft, halte Wacht am Niederrhein!

Der Imperativ des Kommunismus postuliert in einer umfassenden Bedeutung den „gemeinsamen Besitz von Gütern“, in diesem Falle den gemeinsamen Besitz des Quellenmaterials für Forschung und den selbstverständlichen Zugang zu allen substantiellen Erkenntnissen der Forschung.

Damit hängt der dritte Imperativ, die Uneigennützigkeit, zusammen, die „im öffentlich, nachprüfbaren Charakter von Wissenschaft“ ihre Basis hat.

Schließlich der Imperativ des organisierten Skeptizismus, ein methodisches und institutionelles Gebot, das dafür sorgt, dass Urteile und Glaubensüberzeugungen anhand empirischer und logischer Maßstäbe der ständigen Überprüfung ausgesetzt werden.

Binsenwahrheiten? Nein! Zu oft hat sich archäologische Arbeit zur Hure der Politik machen lassen oder sie wurde dazu genötigt.

Merton war gewiss, dass sich seine Grundsätze durchsetzen lassen. Ich weiss allein auf meinem Felde von täglichen Gegenbeispielen: Quellenmaterial wird wissentlich nicht richtig versorgt und so das Prinzip gemeinsamen Besitzes an wissenschaftlichem Gut verraten, wissenschaftliche Entscheidungen fallen nicht uneigennützig und statt Skeptizismus zu beweisen und Urteile empirisch und logisch zu prüfen, werden Urteile hierarchisch je nach dem Briefkopf der Behörde akzeptiert oder nicht. Niederrheinische Gesellschaft, halt Wacht am Rhein! Lass dich von der institutionisierten Wissenschaft nicht ins Bockshorn jagen! Trete als moderner Virtuoso in der Form einer Kreuzung von Bürgersinn und Einsatz für die Wissenschaft an! Es war und ist der Vorzug von Liebhabern und Laien, die Archäologie stets unterstützt, aber mit Gegnern der Archäologie nie gemeinsame Sache gemacht zu haben. Und das, genau das ist ihre tiefere Bedeutung.

Verehrte Festgäste, meine Damen und Herren, ich komme zum halbwegs pünktlichen Ende meiner Ansprache. Vielleicht haben Sie gemerkt, dass es gar nicht so wichtig ist, was man sagt, sondern wer es sagt und wie es gesagt wird. Auf Humor habe ich verzichtet.

Humor in Reden wirkt außerordentlich unseriös. Wo ich den Faden verloren habe, ist er liegengeblieben. Fallen Sie nicht darüber beim Hinausgehen!

Ich habe überlegt, ob die Niederrheinische Gesellschaft nicht der geeignete Patron für die Archäologie nicht nur des Niederrheins wäre. Doch nach eingehender Korrespondenz mit meinem geistlichen Berater Monsignore Lupitus Lacusviridis scheinen die Heiligen Siebenschläfer geeigneter, jene Brüder aus Ephesus, die bei der Christenverfolgung des Kaisers Decius in eine Höhle flohen, dort eingemauert wurden, wunderbarerweise entschliefen, erst nach 187 oder 193 Jahren – genauer, weiß man das nicht – erwachten und die leibliche Auferstehung von den Toten bezeugten. Ich ziehe die Siebenschläfer aus sieben Gründen vor:

  1. weil diese wegen ihres langen Aufenthaltes in der Höhle genuines Verständnis für Archäologie haben müssen,
  2. weil sie manchem Archäologen Mut machen können, doch noch aufzuwachen,
  3. weil die Siebenschläfer sich bereits als Patrone gegen Schlaflosigkeit bewährt haben und ein Bezug zur unermüdlichen Emsigkeit der übrigen Archäologen, insonderheit Ihres Vorsitzenden, da ist,
  4. weil sie die Effizienz von Ihnen allen vertrautem Teamwork und zugleich den Irrtum, „Team“ sei eine Abkürzung von „Toll, ein anderer macht’s“ erwiesen haben,
  5. weil ihr Festtag, der 27. Juni, das Wetter für die nächsten sieben Wochen festlegt, was verlässliche Grabungsplanung, auch für Altstadtgrabungen in Duisburg, ermöglicht,
  6. weil die Siebenschläfer das Schicksal, eingemauert worden zu sein, mit vielen Ergebnissen der archäologischen Forschung, neuerdings auch in Duisburg, teilen und
  7. weil wir als Archäologen, Herr Dr. Krause, an dem Unterfangen, die Toten lebendig werden zu lassen, allen Widrigkeiten zum Trotz festhalten.

Zurück zur Niederrheinischen Gesellschaft!

Jener Talleyrand, der so gern zitiert wird, pflegte seinen Botschaftern eine einzige Instruktion mitzugeben: „Faites aimer la France.“ – „Eure Aufgabe besteht darin, in eurer Person und durch eure Tätigkeit Frankreich liebenswert zu machen“. Mir kommt es so vor – und von Schleswig her darf ich das vielleicht feststellen -, als ob die Gesellschaft sich genau dieses faites aimer zur Losung gemacht habe: Sie macht die niederrheinische Kulturszene und Duisburg liebenswert.

So bitte ich um Beifall, wenn ich einen berühmten Satz aus Voltaires „Epitre à l’auteur du livre des trois imposteurs“ folgendermaßen abwandle:

„Wenn es die Niederrheinische Gesellschaft für Vor- und Frühgeschichtsforschung nicht gäbe, müsste man sie erfinden!“

Ich werde nun dieses Rednerpult räumen. Dabei habe ich der Niederrheinischen Gesellschaft zu ihrem 75-jährigen Dienstjubiläum (möge sie nie in den Ruhestand treten!) noch nicht einmal gratuliert. Das ist freilich ein Trick, denn ich hole das auf meine Weise nach und habe dabei meine Eigenarten. Sie werden nicht ahnen, was nun kommt. Mein Wappentier ist der Maulwurf. Ich schlüpfe in sein Fell und rufe der Gesellschaft, ihrem Vorstand und ihren Mitgliedern zu: „75 Jahre! – Ich gratuliere von Herzen! – Laien sind die besseren Profis! – Weiter so! – Die Schnauze ständig im Dreck, in den Augen den Glanz der Geschichte!“

1 „der die jungen Leute sättigt“ (griech. koros. ‚Sättigung‘, korenimi, sättigen#. Köster scheint den Schuldienst mit versorgung zu haben! Vgl. Kost: Köster.

Günter Krause: 75 Jahre Niederrheinische Gesellschaft für Vor- und Frühgeschichtsforschung e.V. Duisburg.
Veröffentlichung in: der niederrhein(PDF)